Bisweilen erreichen mich Rechtsanfragen von „ganz oben“. Morgens, halb zehn in Bremen. Der Turmkrankführer Uwe Rust* machte in seiner Führerkabine in luftiger Höhe Pause. Er rief mich an, um sich über die Rechtmäßigkeit der Abmahnung zu informieren, die er kürzlich bekommen hatte. Folgendes war vorgefallen:
Herr Rust hatte vom Arbeitgeber an einem Freitag den Auftrag bekommen, an dem folgenden Sonntag zu einer Baustelle nach Wiesbaden zu fahren. Herr Rust erinnerte seinen Arbeitgeber, dass an dem Tag doch die Bundestagswahlen stattfinden und er wählen gehen möchte. Dies schien den Arbeitgeber wenig zu interessieren, da er entgegnete: „Sie würden doch ohnehin die falsche Partei wählen. Ich erwarte Sie pünktlich um 9 Uhr in Wiesbaden in Ihrer Führerkabine.“
Am besagten Sonntag gab Herr Rust in seinem Bremer Wahllokal sofort bei Öffnung um 8 Uhr seinen Stimmzettel ab und fuhr rasch nach Wiesbaden. Dort kam er erst gegen Mittag mit dreistündiger Verspätung an. Dies nahm der Arbeitgeber zum Anlass, Herrn Rust schriftlich abzumahnen. Die Abmahnung las er mir am Telefon vor.
Wenn man eine Kündigung als „Rote Karte“ sieht, ist eine Abmahnung die „Gelbe“. Damit droht der Arbeitgeber eine Kündigung für den Fall an, sollte es zu einer weiteren Verfehlung kommen. Übrigens, es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, dass der Arbeitgeber mindestens zwei oder drei Mal abgemahnt haben muss, bevor er kündigen könnte. Ob zwei, eine oder gar keine Abmahnung, es kommt immer auf den einzelnen Vorwurf an. Eine feste Anzahl von vorgeschriebenen Abmahnungen gibt es aber nicht.
Eine „Gelbe Karte“ setzt auf dem Fußballfeld einen „Foul“ voraus bzw. im Arbeitsleben eine Pflichtverletzung. Vom Grundsatz hatte Herr Rust die Pflicht, rechtzeitig die Arbeit aufzunehmen. In diesem Fall hatte er aber ein sogenanntes Leistungsverweigerungsrecht und gerade nicht die Pflicht, pünktlich bei der Arbeit zu sein. Dies ist der Fall, wenn dem Arbeitnehmer unter Berücksichtigung aller Umstände nicht zuzumuten ist, zu arbeiten. Selbst wenn jemand ausnahmsweise sonntags arbeiten muss, kann er der Arbeit fernbleiben, um zu wählen. Es ist ihm nicht zuzumuten, auf sein staatsbürgerliches Wahlrecht zu verzichten. Die Anweisung des Arbeitgebers war zu kurzfristig, als dass Herr Rust an der Briefwahl hätte teilnehmen können. Nach der Stimmabgabe war er so schnell wie möglich zur Arbeit gefahren. Der Arbeitgeber konnte Herrn Rust somit keine Verfehlung vorwerfen.
Ich habe Herrn Rust übrigens geraten, gegen die Abmahnung nicht vorzugehen, obwohl sie unberechtigt war. Sollte der Arbeitgeber später eine verhaltensbedingte Kündigung aussprechen, könnte Herr Rust sich immer noch auf die Unwirksamkeit der Abmahnung berufen. Eine Reaktionsfrist auf Abmahnungen gibt es nämlich nicht.
Herr Rust konnte nun beruhigt auflegen und die Aussicht genießen.
(* = Name geändert.)